In Argentinien wird um eine Reform des fast 100 Jahre alten Abtreibungsgesetzes gerungen. Jürgen Vogt berichtet aus Buenos Aires.
Der 28. September ist der internationale Aktionstag für eine sichere Abtreibung. Auch in diesem Jahr stand Laura Moses vor dem Kongressgebäude in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Vor sechs Jahren war sie zum ersten Mal gekommen. „Damals war unser Protestzug keine 50 Meter lang, 2018 reichte er über sieben Häuserblöcke auf der Avenida de Mayo“, erzählt die 24-jährige Jus-Studentin.
In den vergangenen Monaten hat Argentinien eine der wichtigsten und intensivsten öffentlichen Debatten der vergangenen Jahre erlebt. Es ging um die Liberalisierung des – bis dato – rigiden Abtreibungsverbots. Der Vorschlag: Zukünftig solle jede Frau während der ersten 14 Wochen der Schwangerschaft selbst über einen Abbruch entscheiden und einen solchen in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos durchführen lassen können. Dafür bedurfte es der Zustimmung beider Kammern des Kongresses: Im Juni kam das grüne Licht dazu aus dem Abgeordnetenhaus. Im August lehnte der Senat den Vorschlag jedoch ab, was dazu führte, dass ein Abbruch demnach weiterhin in nur zwei Ausnahmefällen erlaubt ist: Wenn das Leben der Frau bedroht oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Jeder andere Abbruch kann mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden.
Bei beiden entscheidenden Abstimmungen im Kongress hielten hunderttausende – vor allem junge – Frauen vor dem Gebäude und in den umliegenden Straßen Mahnwachen ab. Auch Laura Moses war dabei. „Nach der Zustimmung im Abgeordnetenhaus haben wir uns gefühlt, als hätten wir die Welt aus den Angeln gehoben“, erzählt sie. Darauf folgten Wut, Enttäuschung und Ohnmacht, als der Senat kurz darauf mehrheitlich mit Nein stimmte. „Wir wussten, dass die Ja-Stimmen nicht reichen würden. Aber bis zum Schluss hatten wir noch auf eine Wende gehofft.“
Uraltes Gesetz. Dass eine Reform des aus dem Jahr 1921 stammenden Abtreibungsgesetzes auf den Weg gebracht werden musste, hatte sich auf den seit Mitte der 1980er Jahre stattfindenden nationalen Frauentreffen gezeigt. Aber erst 2003 setzten einige Organisationen das Thema auf ihre Agenda. „Im Mai 2005 starteten wir eine Kampagne für das Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung“, erzählt Mitbegründerin Claudia Anzorena. Sie arbeiteten einen Gesetzesentwurf aus und wählten als Symbol ein grünes Kopftuch.
Die Farbe Grün geht auf die kritische katholische Gruppierung „Católicas por el Derecho a Decidir“ zurück, die auf dem Treffen 2003 mit grünen Tüchern für einen legalen Schwangerschaftsabbruch auftrat. Das Kopftuch ist dem Vorbild der Initiative „Mütter der Plaza de Mayo“ geschuldet, die öffentlich auf ihre während der Militärdiktatur verschwundenen Kinder aufmerksam machten und als Erkennungszeichen weiße Kopftücher trugen. „Grün erschien uns eine gute Wahl, denn wir wollten mit der Kampagne ein breites Spektrum der Bevölkerung erreichen. Lila und Feminismus wurden damals als etwas für hysterische Frauen stigmatisiert“, so Anzorena.
Argentinien kein Einzelfall
Lediglich in Uruguay, Kuba, Guyana, Französisch-Guyana und in Mexiko-Stadt sind Abtreibungen straffrei. In El Salvador, Honduras, Nicaragua, Haiti und der Dominikanischen Republik stehen Schwangerschaftsabbrüche hingegen auch dann unter Strafe, wenn das Leben der Frau in Gefahr ist. Die Kampagne „Campaña 28 Septiembre“ für die Entkriminalisierung der Abtreibung wurde 1990 in ganz Lateinamerika und in der Karibik gestartet. J.V.
Nach 13 Jahren Kampagnenarbeit und sechs erfolglosen Versuchen wurde der Gesetzentwurf im vergangenen März erstmals vom Kongress zur Debatte angenommen. Seither trugen mehr als 700 Personen ihre Standpunkte bei zahlreichen Anhörungen vor. Die Medien berichteten ausführlich, keine Woche verging, in der nicht eine Aktion oder Demonstration stattfand. Die Bevölkerung setzte sich erstmals offen und intensiv mit dem Thema auseinander. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden 2014 über 47.000 Frauen wegen Komplikationen bei und nach geheimen, unsicheren Abbrüchen in Krankenhäuser eingeliefert. Von den 246 Fällen von Müttersterblichkeit im Jahr 2016 sind 43 Todesfälle die Folge solcher Eingriffe. „Diese Realität zeigt, dass Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien alltäglich sind. Deshalb geht es uns darum, einen legalen Abbruch zu ermöglichen“, so Kampagnen-Initiatorin Anzorena.
Kirche fordert Politik. Die Gegenreaktion ließ nicht auf sich warten. AktivistInnen von der Antiabtreibungsgruppe Grupo ProVida, evangelikale und katholische Kirchen machten mächtig Front. Waren ProVida und Evangelikale von Beginn an offensiv unterwegs, so hatte sich die Gangart der katholischen Kirche erst nach der Abstimmung im Abgeordnetenhaus im Juni deutlich verschärft. Mit seinem Vergleich von Abtreibungen mit nationalsozialistischen Praktiken hatte der argentinische Papst Franziskus aus Rom das Signal zum Angriff gegeben. Nur wenig später forderte der Erzbischof Víctor Fernández von La Plata den Präsident Mauricio Macri zum Eingreifen auf. Dieser müsse notfalls mit seinem Veto das Gesetz verhindern.
„Die Ablehnung im Senat war bitter“, sagt Anzorena. Aber das Gefühl der Zufriedenheit über die erreichte Mobilisierung sei viel stärker. „Wir haben die Straße gewonnen.“ Frühestens im kommenden Jahr könnte wieder ein Gesetzesentwurf im Kongress eingebracht werden. Doch 2019 werden der Präsident und ein Teil des Kongresses neu gewählt, und die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Krise mit steigender Arbeitslosigkeit, Armut und Inflation bereitet immer mehr Menschen Sorge. Das Thema Abtreibung wird in den Hintergrund gedrängt. Dennoch: „Im Wahlkampf werden wir alle Kandidatinnen und Kandidaten damit konfrontieren, vor allem die, die gegen das Gesetz gestimmt haben“, so Anzorena.
„Die Position der anderen Seite ist ein generelles Nein zum Schwangerschaftsabbruch“, sagt Aktivistin Moses. „Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob es neben illegalen, riskanten auch die Möglichkeit legaler, sicherer Abbrüche gibt“, betont sie.
Sie trägt ihr grünes Kopftuch stets bei sich. Eine Mitstreiterin hatte es ihr geschenkt, als Moses das erste Mal an einem 28. September-Aktionstag teilnahm. „Es war meine erste politische Identifikation mit dem Feminismus und hat mich sehr bewegt.“ Wie Moses damals, so ging es in diesem Jahr vielen jungen Menschen. „Die Debatte hat viele politisiert. Es geht um die Gesundheitspolitik, um Sexualerziehung, Verhütung und welche Rolle der Staat zu spielen hat.“
Das Thema Schwangerschaftsabbruch sei heute in der Gesellschaft breit verankert und ein straffreier Abbruch bereits mehrheitlich akzeptiert, ist sich Moses sicher. „Das ist unser Erfolg.“
Jürgen Vogt lebt seit 2005 in Buenos Aires und ist u.a. Korrespondent der taz.
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